Montag, 9. Juli 2012

Mama, du hast so recht- Wir haben die Zeit verändert!




Manchmal wünschte ich, ich könnte zu Lebzeiten meiner Eltern leben. Unbeschwert auf dem Lande, weit entfernt von strömender Zivilisation. Wo das Melken von Kühen und das Backen von Brot auf dem Tagesprogramm stand.  Wo Mann und Frau eins waren und schwere Zeiten als Herausforderung galten, statt als Trennungsgrund. Wo Mutter und Kind gemeinsam Hand in Hand für das Wohlergehen der Familie sorgten. Während Mutter  morgens die Jüngsten zur Schule schickte, machten sich die Ältesten bereits auf den Weg in die Berge. Beim Morgengrauen sammelten sie die Schafe zusammen und durchquerten die Landschaften, die ich nur aus meinen Urlauben kenne. Meine Mutter erzählt mir oft von ihrer Kindheit. Von einer Zeit in der es Glück bedeutete an Wochenenden einen Schokoriegel auf der Zunge zergehen zu lassen. Von einer Zeit in der es Hoffnung war, zur Schule gehen zu können und zu lernen. Von einer Zeit in der es Vertrauen war, für die Familie sorgen zu dürfen und es Liebe war, abends gemeinsam von einem Teller zu essen. Eine Zeit in der die Gemeinschaft alles war. ,,Die Zeiten haben sich geändert, kizim!“, sagt sie mir jedes Mal, wenn sich die Gelegenheit ergibt und ich für einige Zeit gemeinsam mit ihr im Wohnzimmer sitze.
,,Ich vermisse mein Dorf. Ich vermisse den Geruch der Bäume, die Hähne, die uns morgens weckten und die Sommerbrise auf dem Lande, die nach den schweren Wintertagen unsere Gemüter mit Hochgefühl und Freude erfüllten. Ich vermisse den Zusammenhalt einer Familie. Dieses Gefühl werdet ihr nie kennenlernen. Deshalb werdet ihr nie so fühlen wie wir es damals taten.“ Das sagte meine Mutter jedes Mal.
Ich konnte Mutter nie verstehen. Schon wieder schwärmte sie von ihrem Dorf, ihrer Kindheit und der Vergangenheit, die zwar schwere Umstände mit sich brachte, aber umso mehr ihr das Gefühl von Glück nahebrachte. So gut wie es uns heute geht, würde es keinem gehen, sagte ich immer. Wir leben bequem, haben reichlich an Essen, können überall in die weite Welt reisen und haben Zugang zum Internet. Wie schön, dass ich doch heute lebe, protzte ich stolz. Wenn ich dann mal sauer auf meine Mutter war, sagte ich vorwurfsvoll ,,Mama, du bist in einem kleinen Dorf im tiefen Anatolien aufgewachsen, du kannst mich nicht verstehen. Du und ich wir sind zwei Welten!“

Tatsächlich. Zwischen meiner Mutter und mir liegen nicht nur zwei Welten, wahrlich es sind Dimensionen. Und die Zeiten haben sich wirklich geändert.
Ich lebe in einer Zeit, in der Bäume wesentlich grüne Staturen an den Strassen bilden. In einer Zeit, in der Insekten als eklig, statt als Bestandteil des Biotops angehesen werden.
In einer Zeit, in der Vater und Mutter lediglich Erzeuger sind und dafür zu sorgen haben, dass es dem Kind finanziell nicht schlecht geht. In einer Zeit, in der das Kochen als viel zu zeitaufwendig gilt und man lieber schnell in die Dönerbude schlüpft. In einer Zeit, in der Familienessen nur noch zu besonderen Anlässen stattfindet. In einer Zeit, wo man lieber vor dem Fernseher oder dem Laptop sein essen speist, während Vater und Mutter im anderen Zimmer lieblos von der Suppe trinken und sich eigentlich wünschten, dass Kindchen bei Ihnen wäre. Wir leben in einer Zeit, in der Freundschaften anhand der Facebookanfragen berechnet werden. Eine Zeit, in der die Bindung zu gezählten Menschen seinen Verlust verliert und man lieber über das Internet seine Kontakte pflegt. Wir leben in einer Zeit, in der wir selbst wenn wir unsere Freunde treffen, lieber über Smartphones mit Menschen kommunizieren, als dass wir unserem Gegenüber zuhören. Wir leben in einer Zeit, in der wir Festlichkeiten meistens so erfreut feiern, damit wir hinterher bei Facebook über Bilder und Videos vermitteln können, was für einen tollen Tag wir doch hatten. Eine Zeit, in der es mehr darum geht sich zu präsentieren, als in Wirklichkeit sein Glück zu teilen. Wir leben in einer Zeit, in der der Größenwahn den Menschen besiedelt hat. Wir wollen immer mehr, immer schneller und immer intensiver. Wir bekommen nicht genug. Die Auswahl an Möglichkeiten erschwert uns immer mehr die Entscheidungen. Wir könnten überall wohnen, überall arbeiten und mit jedem zusammen sein. Dank Facebook kann sich jeder wie jemand aufführen, der er nicht ist. Dank Facebook können wir in sekundenschnelle neue Kontakte knüpfen. Wenn es mit dem Partner nicht klappt, dann können wir sofort neue Partner kennenlernen.
Wir leben in einer Zeit, in der das Unmögliche nicht mehr vorhanden ist.
Eine Zeit, die uns zu Einzelgängern gemacht hat. Eine Zeit, in der nicht mehr die Gemeinschaft zählt, sondern das Individuum. Die eigenen Belange, die eigenen Wünscheund die eigenen Ziele. UNABHÄNGIG sollen wir sein-am besten finanziell, geistig und emotional. Die Devise lautet- ,,Bestimme selber wer du bist!“
Augenscheinlich eine faire Einstellung. Doch sie ist der Grund, weshalb heute alles so anders, als zu Zeiten meiner Mutter.
Im Zuge unserer Selbstbestimmung distanzieren wir uns immer mehr von unseren Mitmenschen und entwickeln uns zu Egoisten.
Wir verzichten auf unsere Aufgaben in zwischenmenschlichen Beziehungen und fixieren uns immer mehr auf unsere eigenen Interessen. Wenn uns etwas an einem Menschen nicht mehr passt, dann trennen wir uns und glauben einen besseren zu treffen. Schließlich gibt es doch über 7 Milliarden Menschen. Eine Herangehensweise, die immer mehr dazu beiträgt, dass die natürliche Beziehung zwischen Mann und Frau geschwächt wird. Folglich bricht das Prinzip des Familienwesens zusammen. Ein radikales Szenario welches jedoch nachvollziehbar ist. Wenn wir nicht endlich aufhören, ausschließlich an uns selber zu denken, werden wir den natürlichen Kreislauf des Menschen zerstören. Immer mehr  alleinerziehende Mütter, immer mehr psychisch geschädigte Kinder, die ohne familiäre Liebe aufwachsen und immer mehr depressive Menschen, die auf der Suche nach Geborgenheit zusammenfallen. Ich habe angst. Wahrlich ich habe angst vor meiner Zukunft. Werde ich einen Menschen kennenlernen, der mir  zur Seite stehen wird und mich in meiner Existenz ergänzen wird, so wie es zwischen Mann und Frau bestimmt ist? Der Mensch ist nicht dazu berufen einsam zu sein. Der Mensch ist ein Rudeltier und gehört in eine Familie. Wir müssen lernen uns auch mit unseren Fehlern zu lieben. Gewiss, es wird immer einen besseres Partner in jederlei Hinsicht geben, doch es kommt nicht darauf an den Besten zu finden, sondern den, der dich in deinem Leben begleiten und mit dir Kinder zeugen wird. Ich glaube darin liegt die Aufgabe und fürwahr auch das wahre Glück des Menschen. Doch eh man zu dieser Erkenntnis kommt, sind die Jahre bereits an einem vorbei gezogen und man möchte noch so viel verändern.
Jetzt verstehe ich meine Mutter, wenn sie sagte, dass sich die Zeiten geändert hätten und die Gemeinschaft alles ist, was zählt. Wir müssen uns eingestehen, dass wir uns alle gegenseitig brauchen. Jeder von uns ist ein Teil dieses Naturkreislaufs. Genau so wie das Feuer ohne Kohle nicht entflammen könnte, kann eine Frau auch nicht ohne den Mann aufblühen.
Doch es ist nicht die Zeit, die uns verändert hat. Wir sind es, die die Zeit verändert haben.

Gökcen Medik

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