Samstag, 21. Juli 2012

Freiheit im fremden Land


Bodrum, Turkey

Meine Finger gleiten über die Tastatur meines Macbooks, während mich der quälende Gedanken nun etwas schreiben zu müssen, innerlich bedrückt. Vor mir sehe ich Dunkelheit. Eine Fahrbahn mit roten Lichtern, die von den vorausfahrenden Autos bestrahlt wird. Ich befinde mich im Reisebus und fahre entlang der türkischen Küste an mein nächstes unbekanntes Ziel. Ich weiss nicht, wo und wann ich aussteigen werde. Das ist auch gut so. Ich möchte nämlich das Verborgene herausfordern. Ich möchte mich der Freiheit annähern. Denn nur so könnte ich überrascht werden. Ich habe keine Erwartungen in meinem Urlaub, ich habe nicht einmal eine Vorstellung darüber, wie die heutige Nacht ausgehen könnte.  Ich lasse mich einfach von den Begegnungen, meinen kurzfristigen Wünschen und den Bedingungen gleiten. Ich fühle Erleichterung. Und eine Art Freude. Erleichterung, weil ich mich über nichts sorgen mache und Freude, weil ich weiss, es könnte nur noch besser werden. Besser werden? Besser werden als was? Tja, das ist die Frage. Geht es mir etwa nicht gut? Ich weiss es nicht. Leere. Leere umhüllt mich. Ich suche neue Momente, neue Orte, neue Menschen. Doch gleichzeitig habe ich keine Vorstellung von dem, wie das Neue aussehen könnte oder sollte. Ich erhebe keine Ansprüche. Es soll anders sein. Das reicht mir. Vielleicht ist das wieder eine Art Entdeckungsreise, die ich allwöchentlich durchlebe. Ständig durst nach mehr. Hungrig nach Wissen. Bedürftig nach Veränderungen. Vielleicht ist es auch nur eine Art Protest. Vielleicht möchte ich mich von meinen Anforderungen aus dem Alltag befreien und mich gegen das System wehren, das mir vorschreibt, wann ich welchen Bildungsweg zu gehen habe, welche Rechnung ich zu zahlen habe, welche Kompromisse ich eingehen müsste. Das reicht mir nicht aus. Ich will mehr. Aber das was ich will ist so unkonkret, dass ich es nicht in Worte fassen könnte. Vielleicht gibt es für meinen Gedanken auch einfach kein passendes Wort, weil mein Gedanke zu neu ist? Und vielleicht ist dieser Gedanke einfach neu geboren, weil unsere Zeit, in der wir eben so anders ist? Gestern Nacht bin ich mit meinem Koffer in Cesme angekommen. Mitten in der Nacht. Zwei junge Frauen, schwer bepackt mit zwei Koffern, wenig Geld aber mit viel Neugierde und einem unbeschreiblich großen Mut. Wir schlenderten orientierungslos durch die Strassen, in denen die Cafes, die letzte Runde Efes ausschenkten.  Fremde Blicken trafen uns. Wer könnten diese Frauen sein und wo wollten sie um 03.00h morgens hin? Der Strand war leer und dunkel. Doch das regte uns noch mehr an. Einfach verrückt sein wollten wir. Uns in den Koffer legen und uns mit unseren Kleidungsstücken bedecken. Ob das gefährlich sein könnte, fragte ich mich zwischenzeitlich. Dann rief uns einer zu:,, Hey ihr, wohin geht ihr?“ Oh das klang nach deutsch. Wer war das, fragten wir uns? Wir schauten uns um und sahen einen Mann anfang 40 aus einem der Touristenschiffe herausblicken.  Knackig gebrannte Haut, eine dicke Silberkette und funkelnde Grüne Augen. Ein wenig erinnerte er mich an eine Eidechse mit seinem kleinen Kopf und seiner schmächtigen Figur aber durchaus überdimensionalen Größe.
,,Kommt her, ihr seid doch aus Deutschland“, forderte er uns auf. Meine Freundin, die nur deutsch spricht, war sofort angetan. ,,Juhu, endlich einer der Deutsch spricht.!“

Der heisse Kaffee verbrannte meine Zunge. Ich wusste nicht, ob es richtig war, dass wir nun auf sein Schiff gestiegen waren. Er  war Österreicher türkischer Herkunft. 5 Monate des Jahres verbrachte er in Cesme, um auf seinem Schiff  Touren für Touristen zu organisieren. Interssant klang das. Er versicherte uns, dass wir auf dem Deck schlafen könnte.n Doch angst hatten wir schon. Er könnte während wir schlafen einfach den Hafen verlassen und aufs Meer fahren. Ich lag nun da unter der dunklen Sternenacht auf feuchten Kissen umhüllt mit einer Bettdecke und presste mich ganz nah an meine Freundin. Ein riesen Schiff, sie, ich und ein fremder Mann. In einer Stadt, die wir nicht kennen. 3.30h. Ein stiller Hafen. ,, Meinst du nicht, dass es gefährlich ist, wenn wir hier einfach einschlafen?“, fragte mich meine Freundin. Plötzlich hörten wir Schritte. Es kam von unten und ich sah schon aus der Ferne seine Gestalt. Mit einem versteiften Gang, einem schnellen Tempo kam er auf uns zu. Was wollte er denn nun von uns? Wir hatten doch abgemacht, dass wir hier schlafen würden und er unten in seinem Zimmer bleiben wird. Panik. Wir bekamen Angst. Ich flüsterte: ,,Yasmin,Yasmin, wieso kommt er jetzt hoch zu uns aufs Deck? Sie blieb regungslos. Wir konnten beide unsere Angst spüren. Er kam immer näher an uns heran und sein Gang wurde immer schneller. Plötzlich blieb er vor unserem Schlafplatz stehen, zeigte wie ein verstörter mit dem Finger auf mich und sagte in einem rauen Ton:,, Wenn du dich umziehen möchtest,  dann kannst du das nun in meinem Zimmer tun!“
Mir blieb die Luft weg. Wovon sprach er? Wieso sollte ich mich umziehen? Wir lagen doch bereits unter unseren Decken und wollten schlafen. Ich lehnte ängstlich ab und lächelte dabei so, als ob ich mich darüber freuen würde, dass er an mein Wohlbefinden dachte. Sein starrer Blick schaute mir tief in die Augen und ich war mir sicher, dass es jeden Moment mein Ende sein könnte. Doch eh ich reagieren konnte, drehte er sich ruckartig um und verließ das Deck. Wir lagen noch weitere 20 Sekunden regungslos dar, um erst einmal die Gefahr, die wir zuvor durchlebt haben zu realisieren. Und plötzlich begriff ich, dass wir sehr leichtsinnig waren. Sofort sprangen wir auf, nahmen unsere Koffer und schlichen uns in Richtung Ausgang des Schiffes. Dieser Moment war einer der angsteinflößendsten und vielleicht sogar gefährlichsten Momente in meinem Leben. Denn ich kann nicht in Worten wiedergeben, welch einen geistlosen Blick dieser anfangs noch nett wirkende Mann plötzlich aufwies. Dass er urplötzlich aufs Deck kam, mit dem Finger auf mich zeigte und mir sagte, ich könnte mich in seinem Zimmer umziehen, war einfach verrückt. Ab sofort werde ich vorsichtiger sein. Denn je leichtsinniger ich mit meinem Leben umgehe, umso mehr desrespektiere ich mein eigenes Leben. Zumal ich immer diejenige bin, die am lautesten verkündet, wie sehr wir unser Selbst und unser Dasein schätzen sollten. Ich habe erkannt, dass es natürlich richtig ist an das Gute in einem Menschen zu glauben aber es ist noch besser, sich über die möglichen Gefahren eine Orientierungskarte anzulegen und sich bewusst vor derartigen Momenten zu schützen. Denn jeder Mensch ist veränderlich. Wer im ersten Moment wie ein lang vertrauter Freund wirken kann, könnte im nächsten Moment zu deinem Schicksalsschlag werden.
Der Bus bleibt stehen. Ok, ich denke ich sollte jetzt aussteigen!
,,Entschduldigen Sie, wo sind wir hier?“, frage ich ich den Busfahrer.
,,Madame, wir sind nun in Bodrum!“
Ok, ich freue mich!

Montag, 9. Juli 2012

Mama, du hast so recht- Wir haben die Zeit verändert!




Manchmal wünschte ich, ich könnte zu Lebzeiten meiner Eltern leben. Unbeschwert auf dem Lande, weit entfernt von strömender Zivilisation. Wo das Melken von Kühen und das Backen von Brot auf dem Tagesprogramm stand.  Wo Mann und Frau eins waren und schwere Zeiten als Herausforderung galten, statt als Trennungsgrund. Wo Mutter und Kind gemeinsam Hand in Hand für das Wohlergehen der Familie sorgten. Während Mutter  morgens die Jüngsten zur Schule schickte, machten sich die Ältesten bereits auf den Weg in die Berge. Beim Morgengrauen sammelten sie die Schafe zusammen und durchquerten die Landschaften, die ich nur aus meinen Urlauben kenne. Meine Mutter erzählt mir oft von ihrer Kindheit. Von einer Zeit in der es Glück bedeutete an Wochenenden einen Schokoriegel auf der Zunge zergehen zu lassen. Von einer Zeit in der es Hoffnung war, zur Schule gehen zu können und zu lernen. Von einer Zeit in der es Vertrauen war, für die Familie sorgen zu dürfen und es Liebe war, abends gemeinsam von einem Teller zu essen. Eine Zeit in der die Gemeinschaft alles war. ,,Die Zeiten haben sich geändert, kizim!“, sagt sie mir jedes Mal, wenn sich die Gelegenheit ergibt und ich für einige Zeit gemeinsam mit ihr im Wohnzimmer sitze.
,,Ich vermisse mein Dorf. Ich vermisse den Geruch der Bäume, die Hähne, die uns morgens weckten und die Sommerbrise auf dem Lande, die nach den schweren Wintertagen unsere Gemüter mit Hochgefühl und Freude erfüllten. Ich vermisse den Zusammenhalt einer Familie. Dieses Gefühl werdet ihr nie kennenlernen. Deshalb werdet ihr nie so fühlen wie wir es damals taten.“ Das sagte meine Mutter jedes Mal.
Ich konnte Mutter nie verstehen. Schon wieder schwärmte sie von ihrem Dorf, ihrer Kindheit und der Vergangenheit, die zwar schwere Umstände mit sich brachte, aber umso mehr ihr das Gefühl von Glück nahebrachte. So gut wie es uns heute geht, würde es keinem gehen, sagte ich immer. Wir leben bequem, haben reichlich an Essen, können überall in die weite Welt reisen und haben Zugang zum Internet. Wie schön, dass ich doch heute lebe, protzte ich stolz. Wenn ich dann mal sauer auf meine Mutter war, sagte ich vorwurfsvoll ,,Mama, du bist in einem kleinen Dorf im tiefen Anatolien aufgewachsen, du kannst mich nicht verstehen. Du und ich wir sind zwei Welten!“

Tatsächlich. Zwischen meiner Mutter und mir liegen nicht nur zwei Welten, wahrlich es sind Dimensionen. Und die Zeiten haben sich wirklich geändert.
Ich lebe in einer Zeit, in der Bäume wesentlich grüne Staturen an den Strassen bilden. In einer Zeit, in der Insekten als eklig, statt als Bestandteil des Biotops angehesen werden.
In einer Zeit, in der Vater und Mutter lediglich Erzeuger sind und dafür zu sorgen haben, dass es dem Kind finanziell nicht schlecht geht. In einer Zeit, in der das Kochen als viel zu zeitaufwendig gilt und man lieber schnell in die Dönerbude schlüpft. In einer Zeit, in der Familienessen nur noch zu besonderen Anlässen stattfindet. In einer Zeit, wo man lieber vor dem Fernseher oder dem Laptop sein essen speist, während Vater und Mutter im anderen Zimmer lieblos von der Suppe trinken und sich eigentlich wünschten, dass Kindchen bei Ihnen wäre. Wir leben in einer Zeit, in der Freundschaften anhand der Facebookanfragen berechnet werden. Eine Zeit, in der die Bindung zu gezählten Menschen seinen Verlust verliert und man lieber über das Internet seine Kontakte pflegt. Wir leben in einer Zeit, in der wir selbst wenn wir unsere Freunde treffen, lieber über Smartphones mit Menschen kommunizieren, als dass wir unserem Gegenüber zuhören. Wir leben in einer Zeit, in der wir Festlichkeiten meistens so erfreut feiern, damit wir hinterher bei Facebook über Bilder und Videos vermitteln können, was für einen tollen Tag wir doch hatten. Eine Zeit, in der es mehr darum geht sich zu präsentieren, als in Wirklichkeit sein Glück zu teilen. Wir leben in einer Zeit, in der der Größenwahn den Menschen besiedelt hat. Wir wollen immer mehr, immer schneller und immer intensiver. Wir bekommen nicht genug. Die Auswahl an Möglichkeiten erschwert uns immer mehr die Entscheidungen. Wir könnten überall wohnen, überall arbeiten und mit jedem zusammen sein. Dank Facebook kann sich jeder wie jemand aufführen, der er nicht ist. Dank Facebook können wir in sekundenschnelle neue Kontakte knüpfen. Wenn es mit dem Partner nicht klappt, dann können wir sofort neue Partner kennenlernen.
Wir leben in einer Zeit, in der das Unmögliche nicht mehr vorhanden ist.
Eine Zeit, die uns zu Einzelgängern gemacht hat. Eine Zeit, in der nicht mehr die Gemeinschaft zählt, sondern das Individuum. Die eigenen Belange, die eigenen Wünscheund die eigenen Ziele. UNABHÄNGIG sollen wir sein-am besten finanziell, geistig und emotional. Die Devise lautet- ,,Bestimme selber wer du bist!“
Augenscheinlich eine faire Einstellung. Doch sie ist der Grund, weshalb heute alles so anders, als zu Zeiten meiner Mutter.
Im Zuge unserer Selbstbestimmung distanzieren wir uns immer mehr von unseren Mitmenschen und entwickeln uns zu Egoisten.
Wir verzichten auf unsere Aufgaben in zwischenmenschlichen Beziehungen und fixieren uns immer mehr auf unsere eigenen Interessen. Wenn uns etwas an einem Menschen nicht mehr passt, dann trennen wir uns und glauben einen besseren zu treffen. Schließlich gibt es doch über 7 Milliarden Menschen. Eine Herangehensweise, die immer mehr dazu beiträgt, dass die natürliche Beziehung zwischen Mann und Frau geschwächt wird. Folglich bricht das Prinzip des Familienwesens zusammen. Ein radikales Szenario welches jedoch nachvollziehbar ist. Wenn wir nicht endlich aufhören, ausschließlich an uns selber zu denken, werden wir den natürlichen Kreislauf des Menschen zerstören. Immer mehr  alleinerziehende Mütter, immer mehr psychisch geschädigte Kinder, die ohne familiäre Liebe aufwachsen und immer mehr depressive Menschen, die auf der Suche nach Geborgenheit zusammenfallen. Ich habe angst. Wahrlich ich habe angst vor meiner Zukunft. Werde ich einen Menschen kennenlernen, der mir  zur Seite stehen wird und mich in meiner Existenz ergänzen wird, so wie es zwischen Mann und Frau bestimmt ist? Der Mensch ist nicht dazu berufen einsam zu sein. Der Mensch ist ein Rudeltier und gehört in eine Familie. Wir müssen lernen uns auch mit unseren Fehlern zu lieben. Gewiss, es wird immer einen besseres Partner in jederlei Hinsicht geben, doch es kommt nicht darauf an den Besten zu finden, sondern den, der dich in deinem Leben begleiten und mit dir Kinder zeugen wird. Ich glaube darin liegt die Aufgabe und fürwahr auch das wahre Glück des Menschen. Doch eh man zu dieser Erkenntnis kommt, sind die Jahre bereits an einem vorbei gezogen und man möchte noch so viel verändern.
Jetzt verstehe ich meine Mutter, wenn sie sagte, dass sich die Zeiten geändert hätten und die Gemeinschaft alles ist, was zählt. Wir müssen uns eingestehen, dass wir uns alle gegenseitig brauchen. Jeder von uns ist ein Teil dieses Naturkreislaufs. Genau so wie das Feuer ohne Kohle nicht entflammen könnte, kann eine Frau auch nicht ohne den Mann aufblühen.
Doch es ist nicht die Zeit, die uns verändert hat. Wir sind es, die die Zeit verändert haben.

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