Manchmal wünschte ich, ich könnte zu Lebzeiten meiner Eltern
leben. Unbeschwert auf dem Lande, weit entfernt von strömender Zivilisation. Wo
das Melken von Kühen und das Backen von Brot auf dem Tagesprogramm stand. Wo Mann und Frau eins waren und schwere Zeiten
als Herausforderung galten, statt als Trennungsgrund. Wo Mutter und Kind
gemeinsam Hand in Hand für das Wohlergehen der Familie sorgten. Während
Mutter morgens die Jüngsten zur Schule
schickte, machten sich die Ältesten bereits auf den Weg in die Berge. Beim
Morgengrauen sammelten sie die Schafe zusammen und durchquerten die
Landschaften, die ich nur aus meinen Urlauben kenne. Meine Mutter erzählt mir
oft von ihrer Kindheit. Von einer Zeit in der es Glück bedeutete an Wochenenden
einen Schokoriegel auf der Zunge zergehen zu lassen. Von einer Zeit in der es
Hoffnung war, zur Schule gehen zu können und zu lernen. Von einer Zeit in der
es Vertrauen war, für die Familie sorgen zu dürfen und es Liebe war, abends
gemeinsam von einem Teller zu essen. Eine Zeit in der die Gemeinschaft alles
war. ,,Die Zeiten haben sich geändert, kizim!“, sagt sie mir jedes Mal, wenn
sich die Gelegenheit ergibt und ich für einige Zeit gemeinsam mit ihr im
Wohnzimmer sitze.
,,Ich vermisse mein Dorf. Ich vermisse den Geruch der Bäume,
die Hähne, die uns morgens weckten und die Sommerbrise auf dem Lande, die nach
den schweren Wintertagen unsere Gemüter mit Hochgefühl und Freude erfüllten.
Ich vermisse den Zusammenhalt einer Familie. Dieses Gefühl werdet ihr nie
kennenlernen. Deshalb werdet ihr nie so fühlen wie wir es damals taten.“ Das
sagte meine Mutter jedes Mal.
Ich konnte Mutter nie verstehen. Schon wieder schwärmte sie
von ihrem Dorf, ihrer Kindheit und der Vergangenheit, die zwar schwere Umstände
mit sich brachte, aber umso mehr ihr das Gefühl von Glück nahebrachte. So gut
wie es uns heute geht, würde es keinem gehen, sagte ich immer. Wir leben
bequem, haben reichlich an Essen, können überall in die weite Welt reisen und
haben Zugang zum Internet. Wie schön, dass ich doch heute lebe, protzte ich
stolz. Wenn ich dann mal sauer auf meine Mutter war, sagte ich vorwurfsvoll ,,Mama,
du bist in einem kleinen Dorf im tiefen Anatolien aufgewachsen, du kannst mich
nicht verstehen. Du und ich wir sind zwei Welten!“
Tatsächlich. Zwischen meiner Mutter und mir liegen nicht nur
zwei Welten, wahrlich es sind Dimensionen. Und die Zeiten haben sich wirklich
geändert.
Ich lebe in einer Zeit, in der Bäume wesentlich grüne
Staturen an den Strassen bilden. In einer Zeit, in der Insekten als eklig,
statt als Bestandteil des Biotops angehesen werden.
In einer Zeit, in der Vater und Mutter lediglich Erzeuger
sind und dafür zu sorgen haben, dass es dem Kind finanziell nicht schlecht
geht. In einer Zeit, in der das Kochen als viel zu zeitaufwendig gilt und man
lieber schnell in die Dönerbude schlüpft. In einer Zeit, in der Familienessen
nur noch zu besonderen Anlässen stattfindet. In einer Zeit, wo man lieber vor
dem Fernseher oder dem Laptop sein essen speist, während Vater und Mutter im
anderen Zimmer lieblos von der Suppe trinken und sich eigentlich wünschten,
dass Kindchen bei Ihnen wäre. Wir leben in einer Zeit, in der Freundschaften
anhand der Facebookanfragen berechnet werden. Eine Zeit, in der die Bindung zu
gezählten Menschen seinen Verlust verliert und man lieber über das Internet
seine Kontakte pflegt. Wir leben in einer Zeit, in der wir selbst wenn wir
unsere Freunde treffen, lieber über Smartphones mit Menschen kommunizieren, als
dass wir unserem Gegenüber zuhören. Wir leben in einer Zeit, in der wir
Festlichkeiten meistens so erfreut feiern, damit wir hinterher bei Facebook
über Bilder und Videos vermitteln können, was für einen tollen Tag wir doch
hatten. Eine Zeit, in der es mehr darum geht sich zu präsentieren, als in
Wirklichkeit sein Glück zu teilen. Wir leben in einer Zeit, in der der
Größenwahn den Menschen besiedelt hat. Wir wollen immer mehr, immer schneller
und immer intensiver. Wir bekommen nicht genug. Die Auswahl an Möglichkeiten
erschwert uns immer mehr die Entscheidungen. Wir könnten überall wohnen,
überall arbeiten und mit jedem zusammen sein. Dank Facebook kann sich jeder wie
jemand aufführen, der er nicht ist. Dank Facebook können wir in
sekundenschnelle neue Kontakte knüpfen. Wenn es mit dem Partner nicht klappt,
dann können wir sofort neue Partner kennenlernen.
Wir leben in einer Zeit, in der das Unmögliche nicht mehr
vorhanden ist.
Eine Zeit, die uns zu Einzelgängern gemacht hat. Eine Zeit,
in der nicht mehr die Gemeinschaft zählt, sondern das Individuum. Die eigenen
Belange, die eigenen Wünscheund die eigenen Ziele. UNABHÄNGIG sollen wir
sein-am besten finanziell, geistig und emotional. Die Devise lautet- ,,Bestimme
selber wer du bist!“
Augenscheinlich eine faire Einstellung. Doch sie ist der
Grund, weshalb heute alles so anders, als zu Zeiten meiner Mutter.
Im Zuge unserer Selbstbestimmung distanzieren wir uns immer
mehr von unseren Mitmenschen und entwickeln uns zu Egoisten.
Wir verzichten auf unsere Aufgaben in zwischenmenschlichen
Beziehungen und fixieren uns immer mehr auf unsere eigenen Interessen. Wenn uns
etwas an einem Menschen nicht mehr passt, dann trennen wir uns und glauben
einen besseren zu treffen. Schließlich gibt es doch über 7 Milliarden Menschen.
Eine Herangehensweise, die immer mehr dazu beiträgt, dass die natürliche
Beziehung zwischen Mann und Frau geschwächt wird. Folglich bricht das Prinzip
des Familienwesens zusammen. Ein radikales Szenario welches jedoch
nachvollziehbar ist. Wenn wir nicht endlich aufhören, ausschließlich an uns
selber zu denken, werden wir den natürlichen Kreislauf des Menschen zerstören.
Immer mehr alleinerziehende Mütter,
immer mehr psychisch geschädigte Kinder, die ohne familiäre Liebe aufwachsen
und immer mehr depressive Menschen, die auf der Suche nach Geborgenheit
zusammenfallen. Ich habe angst. Wahrlich ich habe angst vor meiner Zukunft.
Werde ich einen Menschen kennenlernen, der mir
zur Seite stehen wird und mich in meiner Existenz ergänzen wird, so wie
es zwischen Mann und Frau bestimmt ist? Der Mensch ist nicht dazu berufen
einsam zu sein. Der Mensch ist ein Rudeltier und gehört in eine Familie. Wir
müssen lernen uns auch mit unseren Fehlern zu lieben. Gewiss, es wird immer
einen besseres Partner in jederlei Hinsicht geben, doch es kommt nicht darauf
an den Besten zu finden, sondern den, der dich in deinem Leben begleiten und
mit dir Kinder zeugen wird. Ich glaube darin liegt die Aufgabe und fürwahr auch
das wahre Glück des Menschen. Doch eh man zu dieser Erkenntnis kommt, sind die
Jahre bereits an einem vorbei gezogen und man möchte noch so viel verändern.
Jetzt verstehe ich meine Mutter, wenn sie sagte, dass sich
die Zeiten geändert hätten und die Gemeinschaft alles ist, was zählt. Wir
müssen uns eingestehen, dass wir uns alle gegenseitig brauchen. Jeder von uns
ist ein Teil dieses Naturkreislaufs. Genau so wie das Feuer ohne Kohle nicht
entflammen könnte, kann eine Frau auch nicht ohne den Mann aufblühen.
Doch es ist nicht die Zeit, die uns verändert hat. Wir sind
es, die die Zeit verändert haben.
Gökcen Medik
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